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Auf dem Bild ist eine Gruppe junger Punks in Jeans und Lederjacken zu sehen.

Das Recht auf Selbstverwirklichung

Die Abweichung von der Norm des "sozialistischen Menschen", dem klassenbewussten und überzeugten Sozialisten, war den Parteifunktionären verdächtig, weil potenziell nicht mehr kontrollierbar.

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Jeder Mensch ist anders, denkt anders, und möchte sich selbst verwirklichen – ein Grundbedürfnis, das in demokratischen Gesellschaften als schützenswertes Gut betrachtet wird. Die Vielfalt menschlichen Seins ist erwünscht. In der DDR bedeutete diese Vielfalt des individuellen Ausdrucks für die Staatspartei SED jedoch eine Gefahr für die eigene Macht.

Art. 22

der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: "Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuß der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind."

Die Abweichung von der Norm des "sozialistischen Menschen", dem klassenbewussten und überzeugten Sozialisten, war den Parteifunktionären verdächtig, weil potenziell nicht mehr kontrollierbar. Der freien Entfaltung der Persönlichkeit wurden folglich enge Grenzen gesetzt. Der Auftrag der Partei an die Staatssicherheit war daher: abweichendes Verhalten im sozialistischen Alltag zu dokumentieren, es als "feindlich" zu definieren und es dann mit den Methoden einer Geheimpolizei zu bekämpfen.

Art. 4

der Verfassung der DDR lautet: "Alle Macht dient dem Wohl des Volkes. Sie sichert sein friedliches Leben, schützt die sozialistische Gesellschaft und gewährleistet die sozialistische Lebensweise der Bürger, freie Entwicklung des Menschen, wahrt seine Würde und garantiert die in der Verfassung verbürgten Rechte."

Im Kontext der Menschenrechte umfasst das Recht auf freie Entfaltung in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht. Dazu gehört die Freiheit, das äußere Erscheinungsbild selbst zu bestimmen; die Freiheit, Beruf, Ausbildung und Studium im Rahmen von allgemeinen Zulassungsbeschränkungen zu wählen; das Recht, vor illegalen staatlichen Eingriffen geschützt zu sein.

Fotoaufnahme des Staatssicherheitsdienstes von einem Nietengürtel, wie ihn vor allem Punks trugen

Keine freie Entfaltung

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 hält in Artikel 22 die "freie Entwicklung des Menschen" als Jedermannsrecht fest. Auch in der DDR-Verfassung ist die Rede von der "freie[n] Entwicklung des Menschen" sowie davon, seine "Kräfte aus freiem Entschluß […] ungehindert zu entfalten". Dies stand jedoch unter dem Vorbehalt „[…] seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten.“ Auch Eltern verpflichtete die DDR-Verfassung ihre Kinder im Zusammenwirken mit staatlichen Institutionen "zu staatsbewußten Bürgern zu erziehen". Beschränkungen für die Entfaltung der Persönlichkeit sind im SED-Staat also von Anbeginn angelegt gewesen.

Bei der Verfolgung von abweichendem Verhalten arbeitete die Stasi eng mit anderen staatlichen Institutionen wie der Volkspolizei zusammen. Ihre Strategien gegen die freie Entfaltung von Persönlichkeit in der SED-Diktatur waren stark davon abhängig, welche politischen Vorgaben die Parteiführung machte. Fuhr das Politbüro einen liberalen Kurs, dann handelte auch die Stasi weniger restriktiv und umgekehrt.

Zentral war dabei das Sicherheitsbedürfnis der Staatsführung. Vor allem politische oder vermeintlich politische Aspekte des "Andersseins" beunruhigten die SED. Beispielsweise gerieten alternative, aus der Perspektive der Partei vom Westen beeinflusste, Jugendkulturen stark in den Fokus der Geheimpolizei. In den 60er Jahren war das die Beat-Bewegung, später in den 80er Jahren die Punks.

 

Rockmusik im Fokus

Bands der Rock- und Beat-Szene und deren standen per se im Blickpunkt der Stasi. Lange Haare bei Jungen oder ein bestimmter Kleidungsstil setzten die Stasi-Mitarbeiter in ihren Berichten mit "negativen" politischen Einstellungen gleich. Aus den Stasi-Dokumenten werden die Vorbehalte gegen Aussehen und Auftreten der Rocker (Musiker und Fans) deutlich. Diese waren allerdings auch in großen Teilen der Gesellschaft verbreitet. Die teilweise skandalisierende und verallgemeinernde Berichterstattung der MfS-Mitarbeiter hat so auch dazu beigetragen, die freie Entfaltung junger Menschen massiv einzuschränken.

Inoffizielle Mitarbeiter (IM) unterwanderten Gruppen von Jugendlichen, sammelten Informationen und halfen so, deren Mitglieder zu verunsichern. Unter anderem auf der Grundlage von IM-Berichten traten die Volkspolizei oder andere Staatsorgane als Vollstrecker auf. Ende der 1960er Jahre griffen Polizisten langhaarige Jungen auf der Straße auf, um ihnen auf dem Revier oder in der Öffentlichkeit die Haare abzuschneiden.

 

Karriere in Gefahr

Die freie Entfaltung der Persönlichkeit in der DDR stieß auch in der beruflichen Entwicklung schnell an Grenzen. Der persönliche Aufstieg war stark von politischen Ansichten abhängig. Kritische Meinungsäußerungen, die dem Parteisekretär oder auch der Geheimpolizei bekannt wurden, konnten leicht eine Lebens- und Karriereplanung zerstören. Die Rolle der Stasi bestand dabei vor allem im Zusammentragen und Weitergeben von Informationen. Die konkreten Eingriffe steuerte der SED-Parteiapparat mit seiner politisch motivierten Personalpolitik. Sie versperrte denjenigen eine Karriere, die nach Einschätzung der Stasi negativ auffielen.

In der Summe wollten viele Bürgerinnen und Bürger dies zum Ende der DDR nicht mehr hinnehmen. Die Desillusionierung durch den Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten führte, nach den großen Fluchtbewegungen der 50er Jahre, wieder zu einem wachsenden Ausreisewillen. Die Mechanismen der Einschüchterung und Überwachung waren für viele nicht mehr wirksam genug, um sie vom mühsamen Prozess der Ausreise abzuhalten. Die SED-Führung konnte diese Protestbewegung Ende der 80er Jahre nicht mehr eindämmen und so wurde auch ihr Schwert und Schild, die Staatssicherheit wirkungsloser.

 

Unterwanderte Jugendkulturen

Bei Eingriffen in die Selbstverwirklichung agierte die Stasi zunächst als Zuträger von Informationen an die Parteiführung und staatliche Entscheidungsträger. Je drastischer die Einschätzungen der Stasi ausfielen, umso heftiger wurden die Maßnahmen des Politbüros. Ob jemand bspw. wegen eines Sympathie-Symbols für eine ideologisch nicht gewünschte Band von der Schule flog oder gar ins Gefängnis musste, hing auch davon ab, wie die Stasi ihre Berichte verfasste und zu welchen Zeitpunkten die Maßnahmen durchzuführen waren.

Als Informationssammler trat die mit strafrechtlichen Ermittlungen befasste Hauptabteilung IX auf, ebenso die für den politischen Untergrund zuständige Hauptabteilung XX. Über Entwicklungen und Stimmungslagen in der breiten Gesellschaft berichtete die ZAIG (Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe) dann an die Partei- und Staatsführung. Sie war nach den Unruhen des 17. Juni 1953 eingerichtet worden.

Was die Staatssicherheit beispielsweise in den 60er Jahren aus der Beobachtung von Jugendkulturen zusammentrug, zeigte bald, dass es den gesammelten Informationen an Tiefe fehlte. Außerdem erkannten die MfS-Offiziere, dass es an direkten Einflussmöglichkeiten auf die Szene fehlte. Deshalb unterwanderte die Stasi die Jugendkulturen mit Spitzeln und Informanten. Ab Mitte der 70er Jahre waren sie an vielen Schnittstellen in den Medien, in Musikgruppen, in Fanclubs und Managerbüros zu finden.

Mit der Hilfe ihrer Zuträger konnte das MfS wesentlich präzisere Berichte anfertigen, in denen äußere Erscheinungsformen und das Verhalten einzelner oder Gruppen eine Rolle spielten. In einigen Fällen schürte die Stasi in ihren Berichten Alarmstimmung gegen Jugendliche und verwandelte in den Berichten individuelle Vorlieben einzelner in gefährliche Tendenzen unter Jugendlichen – eine Handlungsaufforderung an die Instanzen der SED, kulturpolitisch zu handeln.

Auch wenn dies nicht immer auf die Stasi zurückgeführt werden kann, handelte die SED tatsächlich. Sie wirkte zum Beispiel über Schulen und ihre Lehrkräfte, Kulturentscheider oder die Volkspolizei auf das Aussehen junger Leute ein. Sie beeinflusste die Musikauswahl von Jugendsendern und unterwarf Musikgruppen einem enormen Anpassungsdruck, indem sie deren Auftritte unter den Vorbehalt einer Zustimmung staatlicher Instanzen stellte.

 

Zu sehen ist die Rückenansicht eines tätowierten Mannes.

Überwachung und "Zersetzung"

Glaubte das MfS politische Ziele in einer Jugendgruppe zu erkennen, konnte es selbst intensive Überwachung oder so genannte "Zersetzungsmaßnahmen" einleiten. Dabei orientierte sich die Stasi an ihren internen Erkennungsschlüsseln. Diese richteten sich nach Aussehen, Kleidung, Auftreten, aber auch familiärem Hintergrund. Menschen konnten allein wegen ihres Aussehens in den Fokus der Geheimpolizei geraten.

Desinformationskampagnen sollten die Gruppen im Ganzen verunsichern oder misstrauisch machen. Einzelne Mitglieder konnten durch Einberufung in die Nationale Volksarmee (NVA) oder die Vereinnahmung durch andere staatliche Organe gezielt aus einer Gruppe entfernt werden. Durch Anwerbung eines IM aus einer Gemeinschaft konnten MfS-Mitarbeiter diesen gezielt manipulieren und Informationen aus erster Hand abschöpfen.

Am Ende sollte so ein Disziplinierungseffekt erzielt werden - im Umkehrschluss wurde damit die freie Persönlichkeitsentwicklung beschnitten. Damit im Verlauf einer Strafmaßnahme auch wirklich das Ziel erreicht wurde, sorgte die Stasi dafür, dass das konstruierte "Feindbild" zu einem Jugendlichen auch bei polizeilichen Ermittlern, Staatsanwälten und in der Rechtsprechung verbreitet war.

 

Angebote des Stasi-Unterlagen-Archivs

 

Beispiele aus den Stasi-Unterlagen

Punks in der DDR

Wer sich in der DDR nicht konform verhielt, der machte unter Umständen bald Bekanntschaft mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Nikolaus Becker, Sohn des Schriftstellers Jurek Becker, stieß immer wieder mit der Geheimpolizei zusammen. 1982 dokumentierte Becker das Leben einiger Punks und ihre alternative, der DDR-Regierung verhasste Lebensweise zusammen mit seinem Arbeitskollegen Gilbert Radulovic. Becker fotografierte, während Radulovic die Punks interviewte und daraus eine Broschüre erstellte. Die Geheimpolizei nahm Radulovic fest, nachdem er vergebens versucht hatte, dieses Dokument zu Freunden in den Westen zu bringen.

Als er im Verhör preisgab, dass Becker für die Fotos verantwortlich sei, forderte die Staatssicherheit ihn zur Herausgabe der Bilder auf. Dieser Forderung kam Becker zwar nach, zuvor vernichtete er jedoch die Negative und zerkratzte auf den Bildern die Gesichter der Punks, um sie vor einem Zugriff durch die Staatssicherheit zu schützen. Daraufhin wurde Becker mehrmals verhört. Die Verwandtschaft mit seinem bekannten Vater bewahrte ihn jedoch vor der Haft.

Überwachungsvideo der Stasi zur Dokumentation der jungen Punk-Szene in Ost-Berlin

Die in den 1980er Jahren aufkommende Jugendsubkultur der Punks fand auch in der DDR Anhänger. Sich auf diese Weise der Bevormundung durch Staat und Gesellschaft zu entziehen, war in der SED-Diktatur jedoch besonders unerwünscht. Einen gewissen Schutzraum und Versammlungsort bot da die Kirche, die größte unabhängige Einrichtung in der DDR.

Jedoch observierte und filmte die Staatssicherheit heimlich Konzerte und Versammlungen von Punks in der DDR, in diesem Fall eine Veranstaltung in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg. Die Stasi-Mitarbeiter beobachteten aus einem PKW heraus die Konzertbesucher außerhalb der Kirche und in den umliegenden Straßen.

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Jugendkulturen in den Stasi-Akten

Um über die verschiedenen Ausprägungen der Jugendkulturen in der DDR im Bilde zu sein, setzte das MfS auf Informationen von IMs aus den entsprechenden Kreisen selbst. In einem handschriftlichen Bericht eines IMs finden sich detaillierte Angaben zu den existierenden Subkulturen in Potsdam. Darin enthalten sind detaillierte Angaben zu Aussehen, Vorlieben, Verhalten und zugehörigen Personen mit Name und Anschrift.

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Aus den verschiedenen zusammengetragenen Informationen fertigte die Stasi einen Erkennungsschlüssel zu den verschiedenen Jugendkulturen in der DDR an. Darin spiegelt sich der Blick der Geheimpolizisten auf diese Gruppen wider. Allein durch Äußerlichkeiten, wie einem bestimmten Kleidungsstil, konnten Jugendliche in das Blickfeld des MfS geraten und liefen Gefahr, in ihrer freien Entfaltung und Selbstverwirklichung eingeschränkt zu werden.

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"Gesellschaftswidrige Verhaltensweisen" von Jugendlichen beschäftigten die Stasi sehr stark. In der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam forschten Stasi-Mitarbeiter unter dem Deckmantel der Wissenschaft nach Möglichkeiten unliebsame Jugendgruppen zu beeinflussen oder aufzulösen. Die Ergebnisse dieser Seiten zeigen, dass die Geheimpolizei gewillt war, direkten Einfluss auf die Entfaltung von Jugendlichen in der DDR zu nehmen.

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Im Abschlussbericht zum OV "Tramper" beglückwünscht sich die Stasi selbst für ihr Einwirken auf eine Gruppe Jugendlicher, die sich andernfalls angeblich zu Staatsfeinden entwickelt hätte. Ab 1978 entwickelte sich in und um Gera ein loser Verband von Jugendlichen, die gemeinsam Veranstaltungen besuchten. Üblicherweise fielen sie durch Störaktionen und Alkoholkonsum auf.

Darüber hinaus organisierten sie Veranstaltungen außerhalb staatlicher Organisationen und äußerten sich negativ über die Ausbürgerung Biermanns aus der DDR. Ein politisches Programm lag dem nicht zu Grunde, wie die Stasi selbst feststellte. Die Staatssicherheit initiierte in der Folge eine Reihe von Schikanen gegen die einzelnen Mitglieder, welche sich nach und nach zurückzogen. Die Gruppe hörte in Folge der Stasi-Maßnahmen auf zu existieren.

 

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Beat-Musik im Visier der Geheimpolizei

Die Zentrale Informations- und Auswertungsgruppe des MfS (ZAIG) berichtet in diesem Papier über die Gefahren, die von Beatgruppen und deren Anhang ausgehen. Die ZAIG war die wichtigste Schaltstelle im Ministerium für Staatssicherheit und u.a. für die Berichterstattung an die politische Führung zuständig. Im vorliegenden Beispiel lassen sich einige skandalisierende Tendenzen herauslesen.

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In einem anderem Papier aus demselben Jahr finden sich ähnliche Verzerrungen, diese sind jedoch auf eine Musikgruppe beschränkt. Die "Klaus-Renft-Combo" hatte ab 1958 mit systemkritischen Texten immer wieder den Unmut der DDR-Führung auf sich gezogen. Folglich wurden immer wieder Auftrittsverbote ausgesprochen. 1975 musste sich die Band komplett auflösen. Der ZAIG-Bericht bezieht sich auf die Zeit unmittelbar danach. Die Musiker standen weiter unter Kontrolle der Stasi.

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