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Das Recht auf Würde des Menschen

Mit Zersetzungsmaßnahmen wollte die Staatssicherheit die "die Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte" erreichen.

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Der Respekt vor der Würde jedes Menschen zieht sich durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und begründet eine ganze Palette an Schutz- und Abwehrrechten. Darunter fallen Verbote von psychischer und physischer Folter, Erniedrigungen, Willkür oder Brandmarkungen. Die Garantie eines würdevollen Lebens umfasst zwingend das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie die physische Existenzsicherung, aber auch die gedankliche Eigenständigkeit. Das heißt, Menschen dürfen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt werden, sie haben ein Recht auf Selbstbestimmung ihres Lebens.

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der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."

Auch in der DDR konnte man sich laut Verfassung darauf berufen, dass die Achtung vor und der Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit für den Staat und seine Vertreter geboten waren. Betrachtet man das Handeln der Staatssicherheit unter diesem Aspekt, sind viele Maßnahmen jedoch darauf ausgerichtet, die Menschenwürde zu verletzen und damit gegen die Menschenrechte zu verstoßen.

Die Strategie der Zersetzung

Eine vor allem in den 1970er und 1980er Jahren systematisch angewandte Methode der Missachtung der Menschenwürde ist die "politisch-operative Zersetzung" von Menschen oder Gruppen von Menschen. Gemeint ist damit die komplette Verunsicherung einer Person, die Zerstörung ihrer Persönlichkeit bis hin zur Auslösung von Traumata. Im Einzelfall nahm das MfS dabei sogar ihren Tod billigend in Kauf. Laut Wörterbuch der Staatssicherheit sollte dadurch Einfluss auf die "Einstellungen und Überzeugungen" einer Person genommen werden, "[...] daß diese erschüttert oder allmählich verändert werden". Ziel sei "[...] die Zersplitterung, Lähmung, Desorganisierung und Isolierung feindlich-negativer Kräfte". (BStU, MfS, GVS, JHS 001-400/81, Seite 464)

"Zersetzung" als Methode des Umgangs mit politisch unliebsamen Bürgern entstand quasi als Ausweichstrategie zur Vermeidung von offenkundiger, strafrechtlicher Verfolgung. Das harte Vorgehen gegen Oppositionelle sorgte im Ausland und vor allem der Bundesrepublik für Kritik. Insbesondere im Zuge der Entspannungspolitik der 1970er Jahre, mit der die DDR sich vorsichtig gen Westen öffnete, wollte sie auch auf internationalem Parkett glänzen. Schaden für das internationale Ansehen der DDR aus der Verfolgung von Kritikern ließe sich vermeiden, so die Stasi-Logik, wenn unliebsame Personen nicht verhaftet, sondern durch "Zersetzung" handlungsunfähig gemacht würden. In der Logik des MfS waren diese Personen dann "weit weniger gefährlich als inhaftierte 'Märtyrer'".

Zermürben und Erniedrigen

Im Vorfeld einer geplanten "Zersetzung" suchte die Stasi nach Schwachpunkten eines Menschen, um genau dort Maßnahmen anzusetzen. Diese zielten explizit auf die Zerstörung der individuellen Würde. Je nach Wirksamkeit streute die Stasi verleumdende Gerüchte, schüchterte ein, griff in das Berufsumfeld und das Privatleben ein, kriminalisierte das Handeln von Betroffenen und organisierte massive Beeinträchtigungen des Alltags. Die einzelnen Maßnahmen wurden individuell zugeschnitten und kombiniert.

Die Idee der Erniedrigung fand aber auch im Rahmen von regulären Untersuchungsvorgängen ihren Niederschlag. Da die Stasi auch Menschen als Straftäter ansah, die die DDR verlassen wollten, wurden sie, wenn man sie bei der Flucht entdeckte, wie Strafgefangene gedemütigt. Die zuständigen MfS-Offiziere verhafteten "Republikflüchtige" nicht nur. Bilderserien zeigen, dass sie in Anlehnung an eine von der Kriminalpolizei entwickelte Methode die Menschen zwangen, die Verhaftungssituation nachzustellen und sich dabei ablichten lassen.

Wenn politisch Andersdenkende im Gefängnis landeten, waren dort Verletzungen der Menschenwürde an der Tagesordnung. In den Zellen der MfS-Untersuchungshaftanstalten sollten Isolation, Schlafentzug und ständige Kontrolle die Gefangenen zermürben, erniedrigen und so für die Verhöre vorbereiten. Diese Methoden zielten darauf, den Willen und die Würde des Einzelnen zu brechen und ihn so gefügig zu machen.

Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker 1975 bei der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki.
Von der Stasi vermutlich kurz nach der Festnahme der Fluchtwilligen nachgestelltes Foto um 1972. Mutter und Kind sowie vermutlich der Fluchthelfer stehen vor dem geöffneten Kofferraum eines in Westberlin gemeldeten Fahrzeugs
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der Verfassung der DDR garantiert: "Achtung und Schutz der Würde und Freiheit der Persönlichkeit sind Gebot für alle staatlichen Organe, alle gesellschaftlichen Kräfte und jeden einzelnen Bürger."

"Angriff auf die Seele des Menschen"

Die Strategie der "Zersetzung" bezeichnete der Schriftsteller und ehemalige politische Häftling Jürgen Fuchs als "Angriff auf die Seele des Menschen". Die "Zielperson", der "Gegner" oder der "Feind", wie die Stasi Menschen in den Akten bezeichnete, sollten durch die Maßnahmen der Stasi verunsichert werden. Sie sollten zu keiner anderen Handlung mehr fähig sein, als sich mit ihrem zusammengebrochenen Leben zu beschäftigen.

Absolute Anonymität der Maßnahmen war Voraussetzung für deren Erfolg. Weder das Opfer noch sein Umfeld sollten die Stasi hinter den Attacken vermuten. Zusätzlich kam es auf eine jeweils passgenaue, individuelle Strategie an. Dafür war ein umfangreiches Anhäufen von Informationen notwendig, um die Schwächen einer Person ausfindig zu machen und sie dort anzugreifen.

Das Ziel der "Zersetzung" war es, Selbstvertrauen zu zerstören. Die Stasi wollte Angst, Panik und Verwirrung erzeugen, ihren Zielpersonen Liebe und Geborgenheit von Freunden und Familie entziehen, Enttäuschung und Unzufriedenheit provozieren oder eine öffentliche Stigmatisierung erreichen. Die Konstanten eines menschlichen Lebens wollte sie so schrittweise zerstören.

Ein Häftling geht durch den Zellengang. Ein Wärter begleitet ihn. Fotodokumentation der Stasi über Einrichtung und Sicherungsmaßnahmen in Haftanstalten aus dem Jahr 1967.

Die Reichweite der hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter genügte jedoch nicht immer, um die vielschichtigen Pläne umzusetzen. Die Stasi war auf das Zusammenspiel mit anderen staatlichen Stellen angewiesen. Sie nannte das abgekürzt POZW – politisch-operatives Zusammenwirken. Mit dieser Vorgehensweise konnte die Staatssicherheit die gesteuerte Organisation der "Zersetzung" weiter vertuschen.

Maßnahmen der "Zersetzung" wurden gegen Gruppen und Einzelpersonen angewandt. In ihrem Wesen stellten sie einen Angriff auf die Menschenwürde dar. Das MfS organisierte zum Beispiel beruflichen Misserfolg, um Existenzängste oder Unzufriedenheit zu schüren. Permanente Vorladungen durch Polizei oder Verwaltungseinrichtungen sollten einschüchtern. Dem MfS verpflichtete Ärzte wurden gegen die betreffende Person eingesetzt. Es kam vor, dass sie eine "den Wünschen der bearbeiteten Hauptperson widersprechende medizinische Betreuung" einleiteten.

Erniedrigungen, Stigmatisierung und Diskreditierungen durch Desinformation gehörten ebenfalls zum Standardrepertoire der "Zersetzung". Beispiele dafür sind Gerüchte über vermeintliche sexuelle Vorlieben oder über eine Zusammenarbeit mit dem MfS – eine Taktik, die eine Person innerhalb einer Gruppe isolierte. Die Betroffenen wurden so oft vor erhebliche Probleme im Freundes-, Familien oder Kollegenkreis gestellt. Je nach Art und Wirkung der Falschinformation kam das einer gesellschaftlichen Isolation oder Ächtung gleich.

Ebenso verhielt es sich mit erdachten und konstruierten kriminellen Vergehen, die den Opfern noch über Jahre anhingen und schwer zu widerlegen waren. In die gleiche Richtung zielte die Zerrüttung von Familienbeziehungen durch das Vortäuschen außerehelicher Kontakte oder die planmäßige Entfremdung der eigenen Kinder.

Auch offen wahrnehmbare Methoden der Sabotage gehörten zum Arsenal. In den Akten sind ständige Telefonanrufe, permanente Belästigung durch Annoncenschaltung, Vandalismus am privaten Eigentum und sogar körperliche Übergriffe überliefert. Im Einzelfall nahmen die Stasi-Offiziere sogar den Tod als Folge ihrer Tätigkeit billigend in Kauf – ohne dass jemals das Wirken der Stasi für die Betroffenen offenkundig wurde.

Politische Haft und Verhörmethoden

Menschen, die nach den politischen Strafparagrafen der DDR verurteilt und inhaftiert wurden, erlebten im Gefängnis einen weiteren Angriff auf ihre Würde durch ständige Demütigungen. In den Augen des Gefängnispersonals waren sie minderwertiger als die kriminellen Häftlinge und wurden so auch behandelt. In den 1980er Jahren waren schätzungsweise 4.000 Menschen pro Jahr wegen politischer Straftaten inhaftiert.

Die würdelose Behandlung begann bereits in der Untersuchungshaft bei den Verhören durch die Staatssicherheit. Solche Verhöre waren für die Beweisführung zum bevorstehenden Gerichtsverfahren von besonderer Bedeutung. Die zuvor oft unrechtmäßig zustande gekommenen oder manchmal auch erfundenen Ermittlungsergebnisse sollten vor Gericht verwertbar werden. Das konnte am besten durch ein Geständnis des Beschuldigten geschehen. Um das Ziel eines solchen "Geständnisses" zu erreichen, hatten die Vernehmer der Stasi ein ganzes Arsenal psychologischer Methoden und bediente sich dabei auch wissenschaftlicher Erkenntnisse. Physische Folter war selten, wurde jedoch angedroht. Nicht nur in Einzelfällen kamen Psychopharmaka in Stasi-Haftanstalten und -Krankenhäusern zum Einsatz.

Ein Häftling wird gerade von einem Wärter in seine Zelle gelassen. Ein weiterer Wärter beobachtet das Geschehen. Fotodokumentation der Stasi über Einrichtung und Sicherungsmaßnahmen in Haftanstalten aus dem Jahr 1967.

In den oft Stunden dauernden Verhören arbeiteten die Vernehmer mit planvoller Zermürbung, Desinformation, Einschüchterung oder erzeugten ein ständiges Gefühl der Ungewissheit. Eine beliebte Finte war es, Bezüge zu Kindern und Familie herzustellen - zum Beispiel mit der Drohung diese zu verhaften oder für immer den Kontakt zu unterbinden. In politischen Ermittlungsverfahren kam es überdies zu einer unterstützenden Zusammenarbeit mit Psychiatern, die Schwachstellen der Inhaftierten offenlegten und mögliche Ansatzpunkte definierten, um die Person zu "brechen".

Zwar verbesserten sich die Haftbedingungen von den 1950ern bis in die 1980er Jahre in Untersuchungshaftanstalten der Stasi merklich. Trotzdem gab es bis zum Mauerfall katastrophale Umstände zu beklagen. Auch sie dienten der Unterstützung und Vorbereitung der Verhöre. Die Häftlinge erhielten schlechtes und zu wenig Essen, nur mangelhafte ärztliche Betreuung und waren permanenter Überwachung und Kontrolle ausgeliefert. Berichten ehemaliger Häftlinge zu Folge war besonders dieser Umstand belastend. Einerseits reichte die Überwachung bis in intime Situationen und wirkte dadurch entwürdigend. Andererseits verhinderte die ständige Beobachtung durchgängigen Schlaf und wirkte so als Folter.

In Verbindung mit den Methoden des Verhörs konnten Gefangene so gefügig gemacht werden. Führte dieser Weg nicht zum Erfolg, gab es verschärfte Maßnahmen. Einzel- oder Dunkelhaft, Stehzellen, Übergriffe durch die Wärter oder willkürliche sonstige Strafmaßnahmen waren keine Ausnahmen, sondern kalkulierte Mittel, um den Willen der Gefangenen zu brechen.

Beispiele aus den Stasi-Unterlagen

MfS-Fotodokumentation von Festnahme nach Fluchtversuchen

Die Stasi-Bilderserie zeigt Menschen, die um 1970 die DDR verlassen wollten. Sie hatten versucht in Zusammenarbeit mit einem Fluchthelfer in dessen Fahrzeug über die Grenze zu gelangen. Sie hatten sich im Kofferraum des Autos versteckt und hofften, so unerkannt fliehen zu können. Doch die Stasi vereitelte das Unternehmen und nahm die "Republikflüchtigen" fest. In dieser schrecklichen Situation mussten sie die Flucht für eine Dokumentation des MfS selber nachstellen und dafür ihre Plätze im Wagen wieder einnehmen. Diese Methode wurde von der DDR-Kriminalpolizei entwickelt und war für die Menschen auf den Bildern ausgesprochen herabwürdigend. Die zu "Beweiszwecken" aufgenommenen Fotos sind auch ein Dokument der Erniedrigung von Menschen.

Zersetzung als Richtlinie

Zersetzungsmaßnahmen wandte die Staatssicherheit als Teil einer Reihe von Maßnahmen in sogenannten Operativen Vorgängen an, die gegen Einzelne oder ganze Gruppen gerichtet waren. Erstmals normiert wurde Zersetzung in der Richtlinie 1/76 (1. Januar 1976). Sie galt damit als dienstliche Bestimmung und war verbindlich für die Arbeit der MfS-Offiziere. Über Schulungen vermittelte die Stasi ihren Mitarbeitern die Inhalte dieser Anweisung. Das zeigt: "Zersetzung" war eine übliche Methode der DDR-Geheimpolizei und kein Einzelfall. In der Praxis erwuchs daraus eine Vielzahl von konkreten Aktionen.

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Zersetzung als Forschungsthema

Konkrete Zersetzungsmaßnahmen gegen einzelne Personen entsprangen nicht nur den Überlegungen der am Vorgang beteiligten Offiziere. Einige Arbeiten der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam befassten sich mit diesem Thema mit wissenschaftlicher Gründlichkeit. Der hier dargestellte Ausschnitt aus einer solchen Arbeit entstand im thematischen Kontext der Bekämpfung von sogenannten feindlichen Jugendlichen.

Darin werden, konkret und detailliert entwickelt, Maßnahmen erläutert, die Jugendliche psychisch zerstören sollen. Die Ausarbeitung befand sich offensichtlich noch nicht in der Endfassung, da die meisten Sätze nur eine Ansammlung von Stichpunkten sind. Dessen ungeachtet lassen sich daraus Denkmuster und Vorgehensweise der Staatssicherheit ableiten.

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Absolventen der Juristischen Hochschule Potsdam lieferten mit ihren Diplomarbeiten theoretische Grundlagen für die Zersetzung von Personen und Personengruppen. Das folgende Beispiel rückte die Bekämpfung von Kulturschaffenden in den Fokus. Der Autor dieser Arbeit begründete darin, weshalb Zersetzungsmaßnahmen verstärkt anzuwenden seien und welche Mittel und Methoden dazu angewandt werden müssten.

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Zersetzungspläne

Der überzeugte Kommunist Robert Havemann wurde in nur wenigen Jahren vom Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi zum Staatsfeind. In den 50er Jahren lieferte er Informationen an das MfS. Gleichzeitig übte er aber auch Kritik an den politischen Verhältnissen. Die Staatssicherheit begegnete ihm zunehmend misstrauisch, hörte sein Telefon ab und arbeitete "Maßnahmepläne" gegen ihn aus.

Parallel zum wachsenden Zuspruch auf seine kritischen Vorträge an der Humboldt-Universität formierten sich auch die Hardliner der SED gegen ihn. Havemann wurde aus dem Universitätsdienst und aus der SED entlassen. Die Stasi sorgte dafür, dass Havemann keine Gelegenheit mehr bekam, das Wort zu ergreifen. Der vorliegende Zersetzungsplan zeigt, wie weit die Geheimpolizei dabei ging. Einige Passagen des Dokuments fehlen, sie sind möglicherweise durch das MfS vernichtet worden.

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1981 etablierte sich in Berlin-Pankow ein Friedenskreis unter dem Dach der Kirchengemeinde. Die Mitglieder arbeiteten in Gruppen zu verschiedenen Themen. Die Stasi unterwanderte und "bearbeitete" diese Oppositionsgruppe mit dem Ziel, weitere inhaltliche Tätigkeiten zu verhindern. Die zuständigen MfS-Offizieren entwickelten zusätzlich einen Zersetzungsplan gegen einzelne Mitglieder, um sie zu verunsichern und von ihrer Arbeit abzuhalten. Wie dies im Einzelnen aussah, ist im Zersetzungsplan des OV "Virus" nachzulesen. Kurzfristig hatte die Geheimpolizei mit ihren Aktionen Erfolg. Die Gruppe stellte die Arbeit nahezu ein. Im Herbst 1989 brachten sich die aktivsten Mitglieder jedoch in anderen Vereinigungen und Bewegungen ein.

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